„Unser Camper hätte da noch eine schweizer Vignette.“, so startete die Andeutung meiner Schwester, die Alpen auch mal aus der Schweiz kennenzulernen. Sofort wussten wir beide, dass wir den Traumberg unseres Papas, das Matterhorn, sehen wollen und so war die Idee einer Hüttenwanderung rund um Zermatt geboren… Wäre da nicht noch mein eigener Traum vom ersten 4000er Gipfel gewesen! Das ließe sich doch wunderbar kombinieren… Mein Wunsch fand erst seine Aufmerksamkeit, als meine große Schwester selbst ihre erste Hochtourerfahrung gemacht hat.
Was ich mir aber niemals hätte ausmalen können, dass wir etwas größenwahnsinnig wurden und „vom ersten 4000er“ zu „zehn 4000er Gipfel in einer Woche“ gekommen sind, der sogenannten Spaghetti Hochtour im Wallis! Blitzschnell ging es an die Planung, das Suchen eines Bergführers, das Bestellen der Ausrüstung und die Abfahrt Anfang August…
Zu unserer anfänglichen Gruppe gehörten zwei Mädels, zwei Jungs und eine überaus mutige Hündin. Wir sammelten wunderschöne Eindrücke auf Schweizer Berghütten, genossen sonniges Wetter, wurden vor Regen bewahrt und standen ehrwürdig am Einstieg des Hörnligrates, um die Kletterer zu beobachten. Nach einer tollen gemeinsamen Woche trennten sich unsere Wege. Mein Bruder machte sich mit der Vierbeinerin auf den Heimweg, während meine Schwester, mein Freund und ich auf unseren Bergführer warteten. Die Spannung machte uns ganz schön hippelig und keiner konnte es wirklich fassen, dass wir bald zum ersten Gipfel aufbrechen.
Am Nachmittag nahmen wir schließlich zu viert die Bahn hinauf zum Kleinmatterhorn und standen in weißer Nebelsuppe. Aufgeregt packte sich jeder dick ein und versuchte irgendwie mit Eispickel und Seil zurechtzukommen. Nach den ersten Schritten kamen wir mit der Technik immer besser zurecht und uns wurde schnell warm… denn Eile war geboten! Um es pünktlich zum Abendessen zur erste Hütte zu schaffen, mussten wir uns ranhalten. Ich habe lange gewartet und mir oft vorgestellt, wie es sein wird auf dem ersten Gipfel über 4000 Höhenmeter zu stehen und endlich war der Moment so nahe! In Gedanken versunken und im einheitlichen Lauftrott hieß das Kommando des Führers plötzlich: „Stopp, kurz innehalten, wir sind auf dem Breithorn.“ Um uns herum trübe Nebelschwaden, alles war weiß und sah gleich aus. Hände wurden kurz abgeklatscht, schnell was getrunken, Steigeisen angezogen und rasch der Abstieg gestartet. Völlig erschöpft, hungrig und müde ging der erste Hüttenabend total an mir vorbei. Keiner konnte begreifen, dass wir an diesem Tag den ersten Gipfel gemacht haben und alle Eindrücke brauchten erst mal eine Runde Schlaf, um verarbeitet zu werden.
Zumindest solange bis der Wecker kurz vor fünf Uhr klingelte! Der nächste Tag startete mit einem spärlichen Frühstück, mit Stirnlampe und gemischten Gefühlen, da die Wettervorhersage nicht so gut war. So mussten wir einen geplanten Gipfel auslassen und stiegen direkt auf den Castor. Meine Finger waren Eiszapfen und das Gemüt sehnte sich nach Sonne. Doch als wir auf einmal über die Schneekante stiegen, waren alle Sorgen und Strapazen vergessen. Die Umarmungen der Kameraden und die Glückwünsche entgegenkommender Italiener gingen alle an mir vorbei… ich sah nur noch die überirdische Welt aus Eis und Schnee vor mir.
Demütig kamen mir dankbar Freudentränen in die Augen. Mit 1,68 m auf 4228 m stehen zu dürfen, so klein und unbedeutend, so weit oben. Mein Freund sagte im Nachhinein, er fühlte sich wahrhaftig „dem Himmel nahe“. Das war das sehnsüchtige Gefühl, auf das man gewartet hat! So liefen wir überwältigt über den Gipfelgrat, genossen eine Pause auf der nächsten Hütte und bekamen von unserem Bergführer dort Steigeisen- und Pickeltraining… das wir für den dritten Tag brauchten!
Der Grat am Castorgipfel (4228m)
Der steile Aufstieg zum Naso (4272m)
In dieser Etappe hatte ich zu Beginn der Wanderung die erste Stunde lang nur einen Gedanken: Ich muss aufs Klo!! Und so drehten sich tausend Fragen in meinem Kopf. Kann ich einfach auf den Gletscher pinkeln? Darf ich davor meinen Klettergurt ausziehen? Bin ich hier die einzige mit solchen Problemen? Zu meinem Glück stellte sich schnell heraus, dass ich nicht die Einzige war und jeder auch in den Hochgebirgen seine menschlichen Bedürfnisse erfüllen muss. Nach der Pinkelpause richtete sich die Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung und den bevorstehenden Sturm! Es hat viel geschneit und die Wegfindung war nicht leicht. Wir kletterten mit Steigeisen über Felsen, stiegen eine steile Gletscherwand hoch, in der uns alle fast ein Wadenkrampf einholte und wurden auf dem Nasogipfel von solchem Wind erfasst, dass ich nur gebückt und auf den Pickel gestützt gehen konnte.
Durch die erschwerten Bedingungen wählten wir einen felsigen Abstieg, der sicheres Gehen erforderte. Höchste Konzentration war gefragt, an diesem etwas schicksalsbehafteten Tag… Ich hörte das eigenartige Klirren von Steigeisen hinter mir, einen kurzen Laut und spürte wie das Seil an meinem Gurt stramm wurde. Als ich mich umdrehte, versuchte mein Freund von seinem Sturz aufzustehen, hielt sich den Fuß und mir schauderte. Vor zwei Jahren stürze meine Schwester und nun mein allerbester Freund. Mit Verletzung und ohne Steigeisen kämpfte sich unser Kamerad Schritt für Schritt bis zur Hütte. Schweigend liefen wir am nächsten Gipfel bloß vorbei, denn keiner sprach es aus, doch jeder wusste es: der Abbruch der Tour steht bevor. Als der Rettungshelikopter kam, war uns klar, dass es für unseren Freund das Richtige war. Doch die Tour ohne ihn fortzuführen war nicht leicht. Ich wollte diesen Traum mit den wichtigsten Menschen meines Lebens erfüllen und nun wurden die Pläne auf den Kopf gestellt. Doch wir ließen unsere Laune nicht unterkriegen und wollten den Rest der Hochtour für unsere gemeinsame Seilschaft zu Ende bringen!
Das Klettern mit Steigeisen, eine Herausforderung!
Endlich Sonne am 4. Tag auf der Parrotspitze mit 4443m
Wie durch ein Wunder war der nächste Tag frei von allen Stürmen und der blaue Himmel zog uns in seinen Bann. Wie im Rausch jagten wir einen Gipfel nach dem anderen, für den verarzteten Freund, für unsere Träume und für den der all diese fantastischen Berge erschuf! Sechs 4000er überquerten, erkletterten, und bestiegen wir an diesem Vormittag bis wir auf der Margherita Hütte über den Wolken unseren Bergführer endlich ausruhen ließen.
Am letzten Morgen standen wir zum Sonnenaufgang auf der Zumsteinspitze, dem höchsten und elften 4000er der Spaghetti Runde. Alleine im rotgoldenen Lichterschein betrachteten wir das Panorama und stiegen wehmütig immer weiter ab ins Tal. Steigeisen ablegen, Gletscherbrille runter, Jacke aus, Bergbahn, Tourismus… der Kulturschock „im realen Leben“ machte uns erst etwas wirr im Kopf. Doch eine Nacht im Hotel mit Frühstücksbuffet war dann doch eine Wohltat! So konnten wir Zermatt mit unglaublichen Erinnerungen verlassen und freuten uns, alle zu begrüßen, die daheim auf uns warteten und mitfieberten. Der verletzte Fuß war nach einigen Boulderrunden auch langsam wieder vergessen und grinsend vernahm ich die Worte meines Freundes: „Bei meiner Rückfahrt musste ich leider nochmal eine Schweizer Vignette kaufen.“ So stand für mich fest: Schweiz, wir kommen wieder!
Der beeindruckende Blick von der Margherita Hütte auf 4554 m
Der Abstieg von der Zumsteinspitze (4562m) bei Sonnenaufgang
Der erste Gipfel ging total unter, der Sturm bereitete mir Angst, die Aussicht auf alle Gipfel war erst zunichte gemacht, der Sturz machte uns traurig, viele Pläne liefen anders, oft ist man außerhalb seiner Komfortzone und kommt an seine Grenzen, und doch war alles genau wie es sein sollte. Wir hatten einen grandiosen Bergführer, eine innige Seilschaft und ein unbeschreibliches Abenteuer in Gottes Schöpfung! Dafür bin ich dankbar und brenne für weitere Herausforderungen im Bergsport!
Judith Geißler